Die Kraft des Schreibens
- carobernardelli
- 23. Mai 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Nov. 2024
Die gesprochene und geschriebene Sprache gehört grundlegend zu unserem Menschsein. Sie ist ein wichtiger Bestandteil für unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Welt sowie Mittel für unseren Selbstausdruck und die Kommunikation mit unserer Umwelt.
Aus eigener Spracherfahrung wissen wir: Worte haben grosse Kraft. Sie können trösten, aufmuntern, Nähe schaffen, aber auch verletzen oder Angst einflössen.

Geschichte der Poesie- und Bibliotherapie
In der Poesie- und Bibliotherapie wird die Kraft der Worte heilsam eingesetzt. Für die Entwicklung dieser Methode finden wir im Laufe der Geschichte allerhand Beispiele. Bereits im 3. Jahrhundert vor Christus wurde im antiken Griechenland die Bibliothek von Alexandria als „Heilstätte der Seele“ bezeichnet. Bibliotheken wurden nicht nur verstanden als Orte, die Wissen aufbewahrten. Sie hatten ebenso heilsame Wirkung. Von Aristoteles‘ Poetik ist uns die Idee der „Katharsis“ bekannt. Indem der Zuschauer im Theater mit dem Helden leidet und mit ihm seinen Prozess durchlebt, wird er selbst ebenso von Gefühlen wie Trauer und Schmerz befreit (Aristoteles spricht hier von der „Läuterung der Seele“). Aus der römischen Antike sind uns beispielsweise Senecas „Trostbriefe“ bekannt. In Schriftenstücken des Mittelalters wiederum begegnet uns die Macht der Worte in Form von Segen, Flüchen und Zaubersprüchen.
Mit der heilsamen Kraft der Worte haben sich im Laufe der Geschichte zahlreiche Philosophen und Schriftsteller thematisch auseinandergesetzt. In der modernen Psychotherapie gelten in den USA der 1970er Jahre Jack Leedy und Athur Lerner als Pioniere der Poesietherapie sowie Rhea Joye Rubin im Bereich der Bibliotherapie. In Deutschland wurden diese beiden Ansätze seit den 70er Jahren von Ilse Orth und Hilarion Petzold kombiniert und zur Integrativen Poesie- und Bibliotherapie weiterentwickelt.
Kreativität als Motor
Ausgehend von Jacob L. Moreno geht man im Ansatz der Poesie- und Bibliotherapie davon aus, dass Menschen von Natur aus schöpferisch sind. Kann ein Mensch sein schöpferisches Potential entfalten und sein Leben kreativ gestalten, fördert dies seine seelische Gesundheit sowie seine Persönlichkeitsentwicklung.
Lesen als Medizin – der Ansatz der Bibliotherapie
Die Literatur ist reich an Elementen, die allgemein menschliche Konflikte wiederspiegeln. Alle, die gerne lesen, machen auf die eine oder andere Weise die Erfahrung, wie heilsam, bereichernd und erkenntnisreich das Lesen sein kann. Beim Lesen von Literatur finden wir uns selbst wieder, identifizieren uns mit handelnden Figuren oder Begebenheiten im Text, durchleben mit ihnen Krisen und Freuden. Dabei haben wir immer die Möglichkeit, beim Lesen neue Wege im Umgang mit eigenen Konflikten zu entdecken und machen die Erfahrung, mit unseren Sorgen nicht allein zu sein.
Die Heilkraft des Schreibens – der Ansatz der Poesietherapie
Das persönliche Schreiben hat immer auch heilsame Wirkung. Dafür muss man kein ausgewiesener Schriftsteller oder besonders schreib-begabt sein. Viele praktizieren es zum Beispiel in Form von Tagebuchschreiben. „Sich etwas von der Seele schreiben“, seine Gedanken ordnen, sich über etwas klar werden – das sind wichtige Prozesse, die in der langsamen Bewegung des Schreibens und des Formulierens von Sätzen fast automatisch passieren. Wir begegnen ständig neuen Herausforderungen im Leben, neuen Menschen, neuen Situationen, neuen Lebensumständen - und oft fühlen wir uns damit überfordert. Es wirkt beruhigend und heilsam, im Schreibprozess für das, was aktuell um uns und in uns passiert, Worte zu finden und unsere persönliche Welt somit sprachlich zu gestalten. Und das Schöne am kreativen Schreiben ist: wir müssen nicht immer „ich“ sagen und unsere alltäglichen Probleme wälzen! Das funktioniert zwar auch, aber wir können genauso gut Fantasiewelten erschaffen, neue Figuren erfinden, Pflanzen und Tiere sprechen lassen – und trotzdem geht es letztendlich immer um uns selbst und unsere Beziehung zur Welt.
Ausserdem entdecken wir beim Schreiben, aus welch riesigem Fundus an bereits gemachten Erfahrungen und schon vorhandenen Worten wir schöpfen können, und wie sich schreibend immer wieder neue Räume und Wege gestalten lassen.
Weiterführende Literatur:
Bernardelli, Carolin: Integrative Poesie- und Bibliotherapie als “Identitätsarbeit“
in der Erwachsenenbildung. In: Polyloge 18/2023
Hilarion Petzold, Brigitte Leeser, Elisabeth Klempnauer (Hg.): Wenn Sprache heilt. Handbuch für Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und Kreatives Schreiben. Bielefeld 2018
Ilse Orht, Hilarion Petzold: Zur "Anthropologie des Schöpferischen Menschen".
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